gotische Glasmalerei: Bildprogramme, Auftraggeber und Werkstätten

gotische Glasmalerei: Bildprogramme, Auftraggeber und Werkstätten
gotische Glasmalerei: Bildprogramme, Auftraggeber und Werkstätten
 
Welche Bedeutung den Glasfenstern in der gotischen Architektur zukommt, zeigen bereits der von Abt Suger ab 1140 errichtete Chorbau von Saint-Denis und - in letzter Konsequenz - die 1248 geweihte, von König Ludwig IX., dem Heiligen, errichtete Sainte-Chapelle in Paris. Riesige Verglasungsflächen ersetzen in dieser Kapelle nahezu die gesamte Wand; die sie gliedernden und rahmenden Eisenarmierungen sind selbst Teil ihres struktiven Gerüstes. Obwohl die Fülle des Dargestellten vom Betrachter kaum mehr wahrzunehmen ist, liegt der Verglasung der Sainte-Chapelle ein ausgeklügeltes Bildprogramm im Sinne einer »Bible moralisée«, eines Kommentars zur heiligen Schrift in Bildern, zu Grunde. In den Szenen, die von der Überführung von Reliquien berichten, bezieht es sich aber auch auf die Funktion des Raumes als eines monumentalen Reliquienschreins. Ganz erfüllt vom edelsteinartigen Glühen des vielfältig gebrochenen Farblichtes schließt es zugleich den Raum von der Außenwelt ab, erhebt ihn in eine himmlische Sphäre. Doch schon eine Generation später wurden in Saint-Urbain in Troyes große Teile der Chorfenster mit einer nahezu farblosen Ornamentverglasung geschlossen, das farbige Bildprogramm auf einen Prophetenzyklus und die Passion. Christi eingeschränkt.
 
Häufig wurden die Bildfenster korporativen oder privaten Stiftungen verdankt, dienten der »Memoria«, dem Gedenken ihrer Auftraggeber oder Vorfahren, waren mit Selgerätstiftungen verbunden, um die Erinnerung an die bereits Verstorbenen und noch Lebenden wachzuhalten - ein zutiefst mittelalterliches Bedürfnis. Es verwundert daher nicht, dass den berühmten Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Domes in den Fenstern heilige Märtyrer, Jungfrauen, Diakone, Kirchenväter, Bischöfe, Apostel und Tugenden in Langpässen gegenüberstehen und dass das Jüngste Gericht ihr eigentliches Thema ist. Als Gedächtnisstiftung der Habsburger für den 1308 ermordeten König Albrecht I. entstand nach 1325 die Chorverglasung der Klosterkirche Königsfelden im Aargau; zu ihrer Ausführung waren die besten Kräfte der Straßburger und Konstanzer Glasmalereiwerkstätten unter einem genialen Hauptmeister verpflichtet worden. Die hochgotische Glasmalerei als eine architekturgebundene, streng der Fläche verpflichtete, durch Form- und Farbwechsel rhythmisierte Kunst erreicht hier zweifellos einen ihrer künstlerischen Höhepunkte.
 
In der Spätgotik wurde das Erscheinungsbild vielfältiger, da die Glasmaler nun vermehrt andere Kunstgattungen wie Tafelmalerei und Grafik in Form, Farbe und Technik nachahmten. Am Ende dieser Entwicklung stand die wie eine Zeichnung oder ein Kupferstich wirkende, lediglich mit Silbergelb und Eisenrot getönte oder gefärbte Grisaillescheibe. Wie auf zahlreichen altniederländischen oder altdeutschen Tafelbildern noch zu sehen ist, wurden solche Stücke immer häufiger auch in Wohnräumen in Blankverglasungen eingesetzt.
 
Erstaunlich früh, um 1430/31, greifen Scheiben der Chörleinverglasung der Besserer-Kapelle am Ulmer Münster modernste Errungenschaften der niederländischen Malerei auf; offensichtlich sollte diese Vermächtnisstiftung die Erinnerung an den durch Handel zu großem Reichtum und Ansehen gelangten Ulmer Patrizier Heinrich Besserer in der Nachwelt lebendig halten. Bleiben die Hinweise auf seine Person durch Wappenschilde an und in dieser Kapelle vergleichweise bescheiden, so scheute der dank seines unermesslichen Reichtums in hohe königliche Ämter gelangte Kaufmann Jacques Cœur nicht davor zurück, im Maßwerk des von ihm kurz vor seinem Sturz und seiner Verhaftung (1451) in die Kathedrale von Bourges gestifteten Fensters die symbolische Form seines Namens mit der Lilie der Bourbonen - dem Emblem des Königshauses - zu verschmelzen. Auch er betraute mit der Ausführung seiner Stiftung einen niederländisch geschulten Maler oder Glasmaler; die starke Untersicht, in der dieser die in einen Kapellenraum eingefügten Gestalten der Maria, des Engels und der sie flankierenden Heiligen darstellt, ist ohne Auseinandersetzung mit dem Genter Altar Jan van Eycks nicht denkbar. In beiden Fällen dürfte das Streben nach äußerer Repräsentation die Stilwahl beeinflusst haben. In die Zeit um 1500 führt die aus der Grablege der Herren von Plieningen stammende Stifterscheibe: In der Typisierung der Dargestellten bleibt sie zwar trotz ihrer realistischen Detailschilderung dem Mittelalter verpflichtet; im Memento-mori-Motiv der verdorrten Äste, in denen die Wappen der Dargestellten hängen, kündigt sich aber bereits eine neue Zeit an.
 
Prof. Dr. Rüdiger Becksmann
 
 
Deutsche Glasmalerei des Mittelalters, herausgegeben von Rüdiger Becksmann. Band 1: Voraussetzungen, Entwicklungen, Zusammenhänge. Einführung und Katalog. Berlin 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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